Komplexe Zusammenhänge zu begreifen, fällt Menschen nicht leicht. Das ist auch nicht verwunderlich, schließlich ist unsere Umgebung von linearen oder annähernd linearen Ursache-Wirkungs-Beziehungen geprägt. Mit der Evolution hat der Homo sapiens deshalb eine lineare Intuition entwickelt. Er ist darauf spezialisiert, zu vereinfachen, schnell Muster zu erkennen und entsprechend zu handeln. Zudem leidet unsere Spezies, auch das hat evolutionäre Gründe, an einer gewissen Kurzsichtigkeit. Beides sind nicht die besten Voraussetzungen, um ausreichend auf den rasanten Klimawandel zu reagieren – und schon gar nicht auf drohende Kipppunkte.
Kleine Veränderungen werden ab einem bestimmten Punkt, dem Kipppunkt, eine große, möglicherweise unumkehrbare Wirkung entfalten. Ausgelöst wird das durch selbstverstärkende Rückkopplungseffekte. Ab einer bestimmten Schwelle werden diese Rückkopplungseffekte selbsterhaltend und schubsen ein System, etwa den Grönlandeisschild oder den Amazonas-Regenwald, in einen neuen, vollkommen anderen Gleichgewichtszustand.
Um kaum ein Kippelement machen sich Wissenschaftler so große Sorgen wie um den Amazonas–Regenwald. Bei starker Abholzung reagiert das Ökosystem wesentlich empfindlicher auf die Erwärmung.
Es gibt etwas Hoffnung, sogenannte „gute“ soziale und technologische Kipppunkte. Gemeint sind damit gesellschaftliche Transformationen, die ebenfalls plötzlich einsetzen und klimafreundliche Entwicklungen beschleunigen können. Der Solarboom und das exponentielle Wachstum von E-Autos sind positive Beispiele. Und da alles weltweit zusammenhängt sind alle positiven Maßnahmen, überall, bei allen Einzelnen, in jedem Land und jedem Haushalt, wichtig, gesellschaftliche Transformation oder sozialer Wandel notwendig. Bei dem gegenwärtigen Erwärmungstrend ist davon auszugehen, dass „Kipppunkte bald überschritten werden könnten“ oder einige wenige bereits überschritten sind.
Regenwald, Eisschilde und Korallen bereiten die meisten Sorgen. Vor allem der Amazonas-Regenwald ist im Fokus. Ein Kippen des Waldes könnte bis Ende des Jahrhunderts rund 250 Milliarden Tonnen CO2 freisetzen, sagt der brasilianische Klimaforscher Carlos Nobre. Das entspricht den weltweiten Emissionen von fast sieben Jahren. Das 1,5-Grad-Ziel wäre damit hinfällig. Werde dieser Kipppunkt wirklich überschritten, „wird es ein tiefgreifender, unumkehrbarer Wandel sein, der die Weltbevölkerung auf dramatische Weise beeinflussen wird“. Weltbevölkerung, also keine Auswirkung nur auf Südamerika, sondern das Klima der ganzen Welt, also auch noch mehr bei uns.
Der Grönlandeisschild gerät durch das Abschmelzen nach und nach in tiefere und wärmere Luftschichten. Das treibt die Schmelze weiter an. Außerdem legen die abgeschmolzenen Eismassen dunkle Gesteinsflächen frei. Diese absorbieren mehr Sonnenlicht, beschleunigen damit die Erwärmung – wodurch weitere Gesteinsflächen freigelegt werden.
Ab irgendeinem Punkt setzen sich diese Prozesse auch unabhängig von einem Stopp der Erderwärmung weiter fort.
Das Kippen der Eisschilde hätte zudem einen besonders starken Kaskadeneffekt auf andere Kippelemente – etwa die AMOC („Golfstrom“) und den Amazonas-Regenwald –, so der Meeresökologe David Obura.
Neben der AMOC wird das Kippen der Korallenriffe genannt. Denn es gebe „reichlich Beweise dafür, dass wir bei 1,5 Grad sehr wahrscheinlich das gesamte tropische Korallenriffsystem der Erde umstürzen werden“. Die Korallen seien der Kanarienvogel in der Kohlegrube, also der erste Kandidat, der umfallen werde – mit weitreichenden Folgen für die Lebensgrundlagen von 400 Millionen Menschen und das marine Nahrungsnetz.
Es ist sehr bedauerlich, dass die Menschheit eine Medienlandschaft zulässt, die das Risiko herunterspielt und Wissenschaftler nur sporadisch zu Worten kommen lässt, damit Politiker bei diesen Komplexen Fragen verharmlosen ohne ernsthaft an unsere Zukunft zu denken. Medien haben eine große Verantwortung dafür, wie die Klimakrise öffentlich wahrgenommen werde.
(Quelle: klimareporter, 21.07.25)